Alzheimer-Patienten im frühen Stadium
Aus: Alzheimer Info 4/11
Was ist früh?
Die Alzheimer-Krankheit ist ein sehr langsamer Prozess, bei dem nach und nach in bestimmten Gebieten des Gehirns Nervenzellen und Nervenzellverbindungen zu Grunde gehen. Er beginnt viele Jahre vor dem Auftreten der charakteristischen Gedächtnisstörungen. Aus diesem Grund hat der Ausdruck „frühes Stadium“ unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits kann damit der Beginn des Krankheitsprozesses gemeint sein, an dem er noch nicht klinisch in Erscheinung tritt. Andererseits kann man darunter die Phase der gering ausgeprägten Symptome verstehen. Dem folgenden Beitrag liegt die zuletzt genannt Auslegung zu Grunde.
Wie nehmen die Betroffenen die Krankheit wahr?
Die Symptome entstehen ganz allmählich und heben sich anfangs kaum von Bagatellproblemen wie dem gelegentlichen Vergessen von Gesprächsinhalten oder dem Entfallen von Namen ab. Aus diesem Grund ist die Wahrnehmung der Krankheit zu Beginn undeutlich. Aber die Häufung von Fehlleistungen und Pannen führt die meisten Patienten nach und nach zu der Einsicht, dass etwas nicht mehr stimmt. Diese verschwommene Erkenntnis ist oft mit Unsicherheit, Besorgnis, Angst oder Beschämung verbunden und mobilisiert Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Vermeidung und Rückzug.
Die Minderung der Leistungsfähigkeit und der Wandel im Verhalten fallen natürlich auch den Bezugspersonen auf, werden aber nicht selten als Unwille, Mangel an Selbstdisziplin oder gar Bosheit fehlgedeutet. Weil die Veränderungen weder von den Patienten selbst noch von ihren Angehörigen als Ausdruck einer Krankheit wahrgenommen werden, kommt es in der Regel lange Zeit nicht zur Vorstellung bei einem Arzt. Sie erfolgt typischerweise erst, wenn das weitere Fortschreiten der Auffälligkeiten unzweifelhaft zeigt, dass sie nicht mit der normalen Alterung zu erklären sind, oder wenn gefährliche Situationen auftreten. Die heutigen Möglichkeiten der Diagnose im frühen Stadium wurden in der Ausgabe 3/2010 des Alzheimer Info dargestellt (siehe Artikel Früherkennung der Alzheimer-Krankheit – wann, wie, wofür?)
Wie gehen die Betroffenen mit der Diagnose um?
Die Eröffnung der Diagnose muss behutsam sowie mit Rücksicht auf das Informationsbedürfnis des Patienten erfolgen. Sie schafft Klarheit über die zuvor rätselhaften und missverständlichen Veränderungen der Leistungsfähigkeit und des Verhaltens, sie vermittelt dem Patienten und seinen Bezugspersonen die Gewissheit, mit den gegenwärtigen und künftigen Problemen nicht allein gelassen zu werden, und sie setzt das therapeutische Handeln in Gang. Die meisten Patienten fühlen sich durch eine korrekt durchgeführte Aufklärung erleichtert und können daraus Zuversicht schöpfen.
Welche Fähigkeiten bleiben erhalten?
Mit den heutigen Möglichkeiten lässt sich die Alzheimer-Krankheit zu einem Zeitpunkt feststellen, in dem zwar ihre Erkennungsmerkmale bereits vorliegen, die meisten Fähigkeiten und Eigenschaften der Betroffenen jedoch weitgehend unversehrt bleiben. Dazu zählen der Bestand an Wissen und Erfahrung, die Wahrnehmung der krankheitsbedingten Defizite, die Entscheidungskraft bezüglich der Gestaltung des eigenen Lebens, die Ausübung lebenslang gewohnter Tätigkeiten, das künstlerische Ausdrucksvermögen, das ästhetische Empfinden, das sittliche Urteil, die Begeisterung für die Natur, die sozialen Fertigkeiten und die Freude an körperlicher Betätigung. Selbst wenn dieser Zustand die Kriterien für die diagnostische Kategorie der „Demenz“ erfüllt, entspricht er keineswegs der wörtlichen Bedeutung dieses Begriffs („ohne Verstand“). Aus diesem Grund werden gegenwärtig Überlegungen angestellt, den Ausdruck durch einen neutralen Terminus zu ersetzen.
Welche Ziele und Möglichkeiten hat die Therapie?
Auf die Frage nach den wichtigsten Bedürfnissen geben Patienten im frühen Stadium übereinstimmend zur Antwort, dass die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit, die Möglichkeit von Aktivität und Teilhabe am Leben, das emotionale Wohlbefinden und die Wahrung der zwischenmenschlichen Bindungen überragende Bedeutung haben. Diese persönlichen Ziele sind die Richtschnur der Therapie. Sie lassen sich nicht allein mit Medikamenten erreichen. Die gegenwärtig verfügbaren Antidementiva verzögern das Fortschreiten der Symptome um mehrere Monate. Um ein möglichst hohes Maß an Leistungspotenzialen und Lebensqualität aufrecht zu erhalten, müssen sie möglichst unverzüglich eingesetzt werden, sobald die Diagnose der Alzheimer-Krankheit feststeht.
Ergänzend sollten nicht-medikamentöse Behandlungsverfahren mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Anwendung kommen. Zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit dient die Verwendung von Gedächtnishilfen, die Einführung von Routinen in den Alltag und die Vereinfachung der täglichen Abläufe. Das Training von praktischen Problemlösungen kann die Eigenständigkeit fördern und die Lebensqualität erhöhen.
Regelmäßige körperliche Aktivität verbessert nicht nur die Fitness und beugt der Gebrechlichkeit vor, sondern steigert die Hirnleistung und dient dem Wohlbefinden. Die Teilnahme an Patientenselbsthilfegruppen vermittelt Rückhalt und kann wichtige Anregungen geben. Ein unentbehrlicher Bestandteil der Therapie ist schon im frühen Stadium die Beratung der Bezugspersonen. Sie können lernen, ungewollte Kränkungen und fruchtlose Auseinandersetzungen zu vermeiden, erhaltene Fähigkeiten der Patienten zu erkennen und zu nutzen, ihre Aktivität und Teilhabe am Leben zu fördern und sie in gemeinsame Unternehmungen einzubeziehen.
Prof. Dr. Alexander Kurz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar Technische Universität München, Vorstandsmitglied der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V.