Erfahrungen von Angehörigen
Eine Demenz betrifft nicht nur die Erkrankten. Auch ihre Familie, ihre Freundinnen und Freunde sind von der Krankheit betroffen, sie begleiten und pflegen die Erkrankten oft viele Jahre.
Angehörige werden auf diese Weise oft selbst zu Expertinnen und Experten für Demenz.
Auf dieser Seite berichten Angehörige von ihren Erfahrungen. In der Begleitung, Betreuung und Pflege probieren sie vieles aus, sie machen schöne und schmerzhafte Erfahrungen. Ihre Beiträge können anderen Angehörigen weiter helfen und ihnen Mut machen.
Wenn auch Sie eine Erfahrung teilen möchten, schreiben Sie gerne eine E-Mail an Marina Bayer. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Sie müssen nicht Ihren vollständigen Namen angeben und können auch ein Pseudonym verwenden. Ihren Text veröffentlichen wir auf dieser Seite.
Erfahrungsberichte
Jetzt ist mein Mann dort, wo niemand hinmöchte. Im Heim. Seit ca. 7 Jahren ist mein Mann dement. Ich pflegte ihn viele Jahre lang. Vor kurzem übergab ich ihn an professionelle Pflegekräfte und war überrascht, wie gut es ihm trotzdem geht, fernab von Zuhause.
Es begann vor 7Jahren. Da war mein Mann 68 Jahre alt. Ab und zu hielt er damals noch Vorträge, so wie er es vor seiner Pensionierung als Professor gewohnt war. Er liebte es, sein Publikum zu begeistern. Wenn er dann von seinen Vortragsreisen zurückkehrte, berichtete er mir immer ausführlich von seinen Eindrücken. Merkwürdig fand ich allerdings irgendwann, dass er kaum noch von seinen Vorträgen, dafür umso häufiger von den vielen komplizierten Zugverbindungen sprach, wie schwierig es sei, den richtigen Bahnsteig zu finden. Auch unsere geliebten Wanderungen im Weserbergland veränderten sich. Hatte mein Mann früher ein bestens funktionierendes Navigationssystem im Kopf, wusste er plötzlich nicht mehr so genau, wie der Weg weiterging. Mitunter ließ er auch seine Taschen irgendwo liegen oder seinen Mantel. Er vergaß immer mehr. Deshalb gingen wir irgendwann zu einem Neurologen und anschließend zur sogenannten Gedächtnissprechstunde, wo mit umfangreichen Tests eine Demenz festgestellt wurde. Das war Anfang 2018, da war mein Mann 70 Jahre alt.
Was für ein Schock! Für mich brach eine Welt zusammen. Was würde aus unseren Plänen für den gemeinsamen Ruhestand? Was wollten wir nicht noch alles machen? Alles dahin. Auf einen Schlag. Mein Mann jedoch blieb erstaunlich gelassen. Schon immer konnte er belastende Themen gut abfedern und so ließ er auch die Bedrohlichkeit der Krankheit gar nicht sehr an sich herankommen. Diese Haltung empfand ich als sehr entlastend und so versuchte auch ich, das Sorgennest in meinem Kopf möglichst klein zu halten und mich in Gelassenheit zu üben. Wohltuend und uns in dieser Haltung bestätigend war der Rat des Neurologen aus der Gedächtnissprechstunde. Wir sollten uns jetzt nicht verrückt machen, sondern die verbleibende Zeit einfach genießen, so gut und so lange es irgendwie ginge.
Das war vor 5 Jahren und rückblickend betrachtet, haben wir es in den ersten vier Jahren auch wirklich gut hinbekommen, trotz Corona-Ausnahmezustand. Wir sind viel zusammen gewandert, haben Reisen und Ausflüge unternommen und uns oft mit Freunden bei einem guten Essen getroffen. Auch zu Hause haben wir es uns häufig gemütlich gemacht, mit einem Glas Wein beim Kaminfeuer, mit Büchern, Musik und intensiven Gesprächen. Wir haben sehr viel miteinander geredet und ganz besonders gern unsere gemeinsamen Erinnerungen an früher geteilt. Diese Abende waren wunderschön, anregend und innig. Ich werde mich immer mit Freude, aber auch mit sehr viel Wehmut daran erinnern.
Für meinen Mann wurde es mit der Zeit immer schwieriger, sich zu versorgen: selbst einzukaufen, das Frühstück vorzubereiten, den Tisch zu decken, alles fiel ihm von Monat zu Monat schwerer. Anfangs habe ich noch erklärende Gebrauchsanweisungen zu alltagspraktischen Dingen gezeichnet: Wie koche ich einen Tee oder welche Dinge gehören auf den Frühstückstisch? Das half allerdings nur vorübergehend. Einige Zeit später musste er auch beim Duschen, Rasieren, An- und Auskleiden tatkräftig und mit viel Geduld unterstützt werden, denn je nach Tagesform konnte das An-und Ausziehen schon einmal eine halbe Stunde und mehr Zeit in Anspruch nehmen. Mit der Krankheit veränderte sich auch seine Art der Kommunikation und des Umgangs. War mein Mann früher ein Intellektueller, der im wissenschaftlichen Diskurs durch Originalität und fundiertes Wissen auffiel, wurde er mit der Krankheit immer „normaler“ und zugänglicher. So wie die meisten Menschen redete er nun lieber über Urlaube, Freizeitaktivitäten, Filme und am liebsten von „Früher“, von seiner Jugend und Kindheit. Mit der Krankheit wurde er immer charmanter, zugewandter, sensibler und liebevoller. Das hat mich tief beeindruckt und unser Zusammenleben sehr bereichert. „Ich mag ihn jetzt so viel lieber als vorher“, sagte eine gute Freundin, als sie uns einmal besuchte.
Doch leider nahm seine Abhängigkeit von mir im gleichen Maße zu. Mit dem wachsenden Verlust der Selbständigkeit, d.h. Dinge eigenständig zu planen oder etwas selbst in die Hand zu nehmen, wurde er mit den Jahren immer abhängiger von mir und ich wurde mehr und mehr zu seinem persönlichen Butler. „Wo sind meine Schuhe?“ „Wo ist die Zeitung, wo der Kugelschreiber?“ „Kannst du mir beim telefonieren helfen?“ „Ich muss auf die Toilette!“, so ging es den ganzen Tag...
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Veröffentlicht im Januar 2023
Fünf Jahre nachdem mein Mann mit 61 Jahren vorzeitig in den Ruhestand gegangen war, wurde bei ihm die Diagnose Alzheimer-Demenz festgestellt, fünf Jahre später ist er gestorben. Das letzte dreiviertel Jahr hat er in einem Demenz-Heim in der Nähe gelebt.
Soweit die Fakten in Kürze. In diesen wenigen Jahren ist aber sehr viel im Zusammenhang mit der Erkrankung geschehen. Aber nicht nur seine Erkrankung, sondern auch die wachsende körperliche und psychische Belastung bei mir hat unser Zusammenleben sehr beeinträchtigt. Trotzdem hatte ich eine Heimeinweisung immer wieder aufgeschoben, bis der erste Versuch schließlich kläglich misslang.
Um freier über das Geschehene berichten zu können, werde ich keine Orte und Namen nennen.
Die ersten Anzeichen seiner Demenz
Mein Mann war in seinen letzten Berufsjahren von stabiler Statur. Dann aber nahm er ohne erkennbare Ursachen langsam aber stetig ab, in 2,5 Jahren 10 kg. Um das abzuklären bin ich mit ihm zum Hausarzt gegangen. Neben verschiedenen Untersuchungen wurde auch der sogenannte Uhrentest vorgenommen, wobei mein Mann auffallend schlecht damit zurecht kam. Das war der Grund, dass wir eine Überweisung zum Neurologen bekamen.
Nach vielen weiteren Untersuchungen auch des Gehirns per MRT wurde durch Ausschlussverfahren Alzheimer diagnostiziert. In der Folge haben wir verschiedene Medikamente in Pflaster- und Tablettenform ausprobiert, ohne den gewünschten Erfolg. Für mich schritt die Erkrankung des Gehirns deutlich erkennbar voran.
Es waren zunächst kleine Dinge, die meine Aufmerksamkeit erweckten, Einzelfälle von plötzlicher Hilflosigkeit. Beim nächsten mal gelang die selbe Tätigkeit wieder wie gewohnt.
Mein Mann war immer für unsere Finanzen zuständig gewesen, er konnte gut mit dem PC umgehen und hat alles sehr korrekt verwaltet. Er hatte sich zuhause Tabellen angelegt, in denen er Ein- und Ausgaben usw. festhielt und kontrollierte. Aber irgendwann blickte er durch seine eigenen Tabellen nicht mehr durch und verzweifelte zunehmend, wenn der PC mit einem Piepton nicht zulässige Schritte kommentierte. Auch über sein Email-Konto verlor er zusehends die Übersicht, war nicht mehr in der Lage Unwichtiges zu Löschen, wichtige Informationen aufzunehmen, sich zu merken oder an mich weiterzugeben.
Er äußerte einmal, dass er wohl nach dem Ausstieg aus dem Beruf „zu schnell heruntergefahren“ sei. Er wollte einfach erst mal seine Ruhe genießen und ist dabei geblieben.
Außer den beiden Sportterminen pro Woche im Studio, die wir meistens gemeinsam nutzten, hatte er in dieser Zeit wenige Aktivitäten außerhalb des Hauses. Das Fahrrad blieb ungenutzt im Keller. Es zog ihn auch nicht alleine in die Natur. Planung und Anstoß von Aktivitäten oder soziale Kontakte überließ er mir.
Im Fitnessstudio, das wir beide schon seit mehreren Jahren besuchten, konnte er die Anweisungen der Trainer nicht mehr umsetzen. Zuletzt stürzte er im Trainingsraum und zog sich eine Platzwunde am Kopf zu. Das war für ihn das Ende des Trainings...
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Veröffentlicht im Herbst 2022
Momentan wird viel über Alzheimer gesprochen und geschrieben. Es gibt tolle Filme, Sendungen und Bücher. Ich lese viel und tausche mich auch dank des Blogs mit anderen Betroffenen aus. Viele Bekannte und Freunde haben nun davon erfahren und fragen – und ich kann darüber sprechen. Ich kann sagen, dass ich mich nicht entspannen kann, wenn ich zu meinen Eltern fahre (so wie es alle annehmen, die nicht wissen, dass du krank bist) und dass es für mich noch mal zusätzlicher Stress ist zu den Kindern. Ich merke, wie gut es mir tut, dass ich offener damit umgehe. Ich kann endlich sagen: „Meine Mama hat Alzheimer“, ohne dass ich weine oder mir die Tränen verdrücke.
Und dann denke ich an dich. Ich sehe dich, wie du in deinem Lieblingssessel sitzt. Du bist alleine, wenn du Runde für Runde im Esszimmer um den Tisch gehst. Du bist alleine, wenn wir am Tisch sitzen, essen und erzählen. Du kannst nicht mehr mitreden. Du kannst nicht mitmachen, wenn die Kinder spielen. Bist du dann einsam? Du wirkst meist nicht unglücklich. Du nestelst mit deinen Fingern an deiner Strickjacke und gehst und gehst. Oder du sitzt und schaust in die Ferne.
Aber manchmal, da blickst du hilflos um dich. Und diese Situationen werden häufiger. Wenn Papa dich anzieht und dir geduldig sagt: „Jetzt das rechte Bein“, „Das rechte Bein“, „Das Bein hier“, dann stehst du da und weißt nichts mit deinem Bein anzufangen. Du schaust ihn mit deinen lieben Augen an. Wenn ich dir die Haare waschen will und sage: „Komm, jetzt beuge mal den Kopf nach vorne“, dann siehst du mich an. Manchmal nickst du, weil ich nicke. Aber du hast überhaupt nicht verstanden, was ich gesagt habe. Ich kann dich mit meinen Worten nicht mehr erreichen. Du bist woanders.
Und doch glaube ich, dass du jetzt weniger einsam bist als noch vor ein paar Jahren. Als die Alzheimer-Erkrankung noch nicht so weit fortgeschritten war, konntest du noch viel. Aber du hast gemerkt, dass du Dinge vergisst, nicht mehr weißt oder dir ganz normale Alltagshandlungen schwerfallen. Du warst oft traurig und hast geweint. Vermutlich hast du noch viel mehr geweint, wenn ich und die Kinder nicht dabei waren. Du hast dann Medikamente bekommen, und es wurde ein wenig erträglicher für dich, zumindest hast du wieder häufiger gelacht und warst nicht nur deprimiert. Aber heute verstehe ich, dass du dich einsam gefühlt hast, weil du plötzlich allein und unsicher in deinem eigentlich vertrauten Umfeld warst. Fremd im eigenen Zuhause.
Du bekommst viel Zuneigung und Hilfe. Papas Gedanken und Mühen kreisen nur um dich. Er ist fast immer bei dir und umsorgt dich so, wie man es jedem Erkrankten nur wünschen kann. Und du bist in der Tagespflege mit anderen zusammen, du magst die Pflegerinnen, und du kommst dort gut klar. Vermutlich bist du jetzt, wo die Krankheit in die schwere Phase überdriftet, gar nicht mehr so einsam wie am Anfang. Du bist einfach nur im Woanders.
Mit Lächeln und Streicheln gelingt es, dich in unsere Welt zu holen und gemeinsame Momente zu haben. Aber es wird immer schwerer. Und ich merke, dass es uns einsam macht. Papa ist jeden Tag mit dir zusammen – und doch ohne dich. Du bist in deiner eigenen Welt. Sogar mich macht es einsam, dass du nicht mehr bei mir bist. Ich bin ja schon lange zu Hause ausgezogen, aber wir waren uns trotzdem nah. Wir konnten telefonieren, uns schreiben, besuchen. Jetzt besuche ich euch und spreche mit dir, aber du bist woanders. Du schaust mich mit großen Augen an. Ich erzähle dir, wie es mir geht. Ich hoffe, dass du reagierst. Aber du bist in deiner Welt – und ich fühle mich verlassen.
Mehr von Peggy lesen Sie in ihrem Blog Alzheimer und wir - Meine Mama, der Alzheimer und meine Kinder
Das Blog ist als "Bestes Themen- und Nischenblog" mit dem "Goldenen Blogger 2019" ausgezeichnet worden. Hier geht es zu den Preisträgern.
Ich pflege seit Jahren meine Mutter und musste leider häufig feststellen, dass ich immer wieder mit allem Möglichen allein gelassen wurde.
Am Schlimmsten ist die Tatsache, dass Alzheimerpatienten meistens mit Schmerzmitteln unterversorgt werden, da sie ja nicht äußern, was sie fühlen oder wo sie Schmerzen haben. Es dürfte ja bekannt sein, dass die typischen Probleme im Muskelbereich dieser Patienten starke Schmerzen hervorrufen (man stelle sich einfach einen extremen Muskelkater vor). Es ist es für mich nicht nachvollziehbar, dass Hausärzte einen nicht darauf aufmerksam machen und die Patienten vernünftig mit Schmerzmitteln versorgen.
Das ist nur ein Problem von vielen. Es gibt auch viel zu wenig Info über Kurse für Angehörige im Bereich Pflege, zum Beispiel wie lagere ich richtig, was für Lagerungshilfen gibt es und wie bewege ich die Patienten möglichst rückenschonend für mich (Kinästetik).
Mein Vater (82) mit einer leichten bis mittleren Demenz und Parkinson (deutlich eingeschränkte Gehfähigkeit) und Pflegestufe 1 wurde bisher von meiner Stiefmutter (67) im eigenen Haus betreut. Er unterliegt nach wie vor dem Glauben, er könne noch alles allein und brauche keine Hilfe. Meine Stiefmutter fiel kurzfristig wegen Krankenhausaufenthalt aus – Vater allein zu Haus. Genesung und Rückkehr meiner Stiefmutter nicht absehbar. Es musste eine perspektivische Lösung entwickelt werden.
Ich habe als einziger Sohn unmittelbar die Pflege übernommen und meiner Stiefmutter zugesagt, das Weitere zu organisieren. Da ich 400 Kilometer entfernt vom Wohnsitz meiner Eltern lebe und noch voll berufstätig bin, ist eine tägliche Betreuung durch mich ausgeschlossen.
1. Versuch Organisation ambulante Pflege und Betreuung im eigenen Haus: Nach drei Wochen Erfahrung vor Ort wäre grundsätzlich auch ein noch weitgehend selbstbestimmtes Leben im Rahmen der vertrauten Umgebung möglich. Aber eine permanente Betreuung / Präsenz ist erforderlich, plus hauswirtschaftliche Unterstützung und Medikamentengabe. Mein Vater lehnt jede „fremde“ Unterstützung ab und hat die ambulante Pflege von der Caritas recht „aggressiv“ und eindeutig aus dem Haus geschmissen. „Ich melde mich, wenn ich etwas brauche und ansonsten helfen mir die Nachbarn“. Hinterher zu mir: „Die lasse ich hier nicht mehr rein“.
2. Die Besichtigung eines Pflegeheimes vor Ort für eine Übergangspflege wurde mit einem Kaffeetrinken und einer Zimmerbesichtigung gestartet und endete mit dem: „Das sieht ganz nett aus, überlege ich mir, jetzt können wir wieder gehen“. Im Rahmen einer weiteren Erörterung mit der Heimleitung schied wegen der zu erwartenden „Heimläufigkeit“ damit eine Unterbringung aus, da er gegen seinen Willen nicht festgehalten wird. Die Orientierung vor Ort funktioniert auch noch weitgehend. Er wäre dann wieder allein zu Hause.
3. Die Überredung von mir und seiner Frau und Nachbarn zu einem „Kuraufenthalt“, den er schon länger für sich selbst geplant hat, lehnt er auch ab, weil er erstmal die Genesung seiner Frau abwarten will und dann gemeinsam mit ihr zu Kur will. Ist ja auch nicht abwegig, nur leider nicht die Lösung des Problems.
4. Die quasi selbstbestimmte Lösung funktionierte anschließend im Zusammenspiel mit dem Hausarzt, der ihm eine „Kurzusage“ per Post schickte und erläuterte, dass die Kur seine Gehfähigkeit wieder verbessern würde und er dann fit sei, wenn seine Frau aus dem Krankenhaus kommt, und sich um sie kümmern könne. Die habe ich noch von einem Nachbarn verstärken lassen. Eine anerkannte Autoritätsperson in Verbindung mit dem fingierten Schreiben ermöglichten es mir, meinen Vater in ein Kurheim in meinen Heimatort mitzunehmen – „Ich fahre Dich in die Kur“. Verabschiedung von Nachbarn etc. als Rituale dazu.
5. Ich hatte im Vorfeld den Heimplatz und die Abstimmung des „Kuraufenthaltes“ organisiert und meinen Vater zu seiner Kur gefahren. Er weiß nicht, dass ich ganz in der Nähe wohne. Ich besuche ihn am Wochenende in seinem Kurheim...
Jetzt geht es mir darum, seinen Kuraufenthalt mit Bewegungstherapie/Krankengymnastik oder ähnlichem als individuelles zusätzliches Angebot weiter glaubwürdig zu unterlegen.
Zum zweiten braucht es eine psychologische Begleitung, um perspektivisch eine längerfristige, wenn nicht dauerhafte Unterbringung zu erreichen, da meine Stiefmutter absehbar die Betreuung nicht mehr übernehmen wird.
„Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdiene – dann brauche ich es am meisten!“
Vor jetzt schon 10 Jahren ging es irgendwie los. Mein Papa war seit ein paar Jahren in Rente, gab aber noch Nordic Walking Kurse und arbeitete als Vertretung manchmal noch als Sportlehrer. Es waren am Anfang relativ kleine Sachen: Verräumte Gegenstände, vom Zaun gebrochene Streits usw. Als dann aber immer öfter größere Summen Geld weg kamen, mein Papa fast nur noch wie gelähmt zu Hause saß und auch seine Kurse nicht mehr organisieren konnte, wurde es beängstigend. Ich dachte: er ist vielleicht Spiel – oder Alkoholsüchtig. Wir fragten oft: Was ist denn nur mit dir los? Ernteten aber nur patzige Antworten.
Ich erkannte meinen Papa, der sonst gerade mir gegenüber eigentlich nie wütend oder böse wurde, nicht wieder! Es zog mir eigentlich damals schon den Boden unter den Füßen weg. Ich war vor der Pubertät immer ein „Papa-Kind“ gewesen und wurde sehr von ihm verwöhnt. Aber auf einmal hatte ich das Gefühl, von ihm nicht mehr geliebt und wahrgenommen zu werden. Ich war damals ja gerade mal 15, dementsprechend konnte ich damit wirklich nicht umgehen!
Zum Glück ist meine Mama sehr rigoros und handlungsfähig in solchen Situationen! Sie schickte meinen Papa zu einem Neurologen, der aber nach nur 5 Minuten Gespräch sagte, es sei alles normal, was wir nicht glauben konnten. Deswegen gingen wir noch zu einem anderen Arzt, welcher bis heute meinen Papa behandelt. Er nahm sich Zeit und machte viele verschiedene Test. Dann bekamen wir die Diagnose: Alzheimer im Anfangsstadium…
Das steht dann da erstmal so da, aber was macht man damit? Man weiß nicht, was auf einen zukommt und was die nächsten Schritte sind. Es wurde zum Glück wirklich sehr früh erkannt. So konnte der Verlauf mit Medikamenten wirklich sehr verlangsamt werden und auch wir konnten uns nach und nach auf die neue Situation und auf die neuen Bedürfnisse von Papa, aber auch von uns, einstellen.
Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass ich die Zeit, die mir damals noch mit meinem Papa geblieben wäre, besser hätte nutzen können und sollen. Nur mit 15, 16, 17 Jahren realisiert man das einfach nicht und ist oft eben genervter, als man hätte sein sollen. In diesem Alter ist es, finde ich, auch einfach noch nicht dran, dass man sich so zurücknehmen und sich auf einen Elternteil so einstellen muss. Trotzdem bereue ich es, kann es aber leider nicht mehr ändern. Hinterher ist man ja immer schlauer…
Nach und nach kamen dann aber doch immer mal Schübe. Zum Beispiel ein „geklautes Auto“, als mein Papa einfach nicht mehr wusste, wo er es abgestellt hatte und ich mit ihm und einer Freundin zusammen bei 35 Grad stundenlang suchen mussten und es trotzdem nicht fanden. Auch wurde er mehr und mehr orientierungsloser und fand sich in neuen Umgebungen, zum Beispiel in Urlauben, nicht mehr zurecht.
Neben diesen offensichtlichen Symptomen war es aber vor allem der schleichende Persönlichkeitswandel, der mir sehr zusetze. Mein Papa war früher ein Mensch mit so viel Energie, Lebenslust und Ideen gewesen, wovon aber immer weniger zu spüren war. Er verbrachte jetzt eigentlich den ganzen Tag zu Hause, ohne dort aber wirklich etwas zu tun, den Garten zu pflegen zum Beispiel. Dies war, glaube ich, gerade für meine Mutti echt schwer, weil sie ja noch normal arbeiten ging und es oft nicht glauben konnte, dass jemand den ganzen Tag Zeit hat und daraus aber nichts macht. Dabei konnte es mein Papa schon einfach nicht mehr, weil er gar nicht mehr wusste, wo und wie er es hätte anpacken können. Dies ist eben das heimtückische an dieser Krankheit, sie ist so vielschichtig und komplex in ihren Auswirkungen, dass man nicht weiß wo es anfängt und wo das alles noch enden soll.
Trotzdem ging es, wie gesagt, aber viele Jahre noch recht gut auch zu Hause. Doch vor jetzt 2 Jahren kam ich nach 8 Wochen Auslandsaufenthalt wieder zurück zu meinem Eltern und realisierte: Es geht zu Hause nicht mehr! Wenn man so nah dran ist und eine Person jeden Tag sieht, erkennt man vieles doch nicht und sieht vieles als „normal“ an. Nach diesen 8 Wochen Abstand waren mir die Defizite meines Papas und die ganze Situation so bewusst, dass es mich nochmal ziemlich umgehauen hat! Er war 24h unruhig, schlief kaum noch und räumte und kramte den ganzen Tag. Dementsprechend ging es auch meiner Mutti, die jedes Mal, wenn er nachts aufstand, mit aufstehen musste. Man konnte nie wissen, ob er vielleicht doch nochmal „spazieren“ ging oder sowas. Wir waren eigentlich nur noch überfordert.
Es dauerte dann aber noch über ein halbes Jahr, bis wir den nächsten Schritt wirklich gehen konnten. Mein Papa ging da schon 3 Tage in der Woche in eine Tagespflege, was zumindest etwas half. Aber die Entscheidung, den Ehemann beziehungsweise Papa nicht mehr zu Hause wohnen lassen zu können ist glaube ich die schlimmste überhaupt! Es zerbricht dabei etwas in einem, was sich auch nicht wieder reparieren lässt.
Ein Stück weit wurde uns die Entscheidung in dem Sinne abgenommen, dass mein Papa vor sich selbst nicht mehr sicher war: An einem Abend kam ich in eine total stickende und verqualmte Küche und mein Papa saß mittendrin und las Zeitung. Er hatte einen Topf auf die heiße Herdplatte gestellt mit irgendwas festem drin, aber keinem Wasser…. Wäre dies passiert und wir wären erst 5 Stunden später nach Hause gekommen, hätten wir uns das nie verzeihen können.
So ist mein Papa nun seit ein bisschen mehr als einem Jahr in einer speziellen Einrichtung für Demenzerkrankte und trotzdem ist die Situation für uns alle die Beste, die wir gerade haben können. Es nimmt unheimlich viel Druck von einem, zu wissen, dass mein Papa versorgt und sicher ist! Ich fahre trotzdem oft hin, aber kann mich dann (meistens) zu 100 % auf ihn einlassen, ohne mich um die Grundbedürfnisse kümmern zu müssen.
Sicher gibt es einige Stimmen, die diesen Schritt nicht verstehen: einen Angehörigen abschieben, ihn nicht mehr haben wollen. Ja, sowas lässt sich von außen einfach sagen. Aber meinem Papa tut es auch nicht gut, wenn ich oder wir immer nur gestresst und angespannt sind und sich dies ja auch auf ihn überträgt. Er kann ja nicht verstehen, warum, und würde sich immer fragen, was er denn wieder falsch gemacht hat. Dabei ist er krank und kann einfach nichts dafür!
Mehr von Annegret lesen Sie in ihrem Blog Gegen das Vergessen - Ein Tagebuch über den Alltag mit Alzheimer.
Muddi hat ja eine bekannte Makula – Degeneration. Sie sagt immer wieder, dass sie so schlecht sehen kann. „Vielleicht stimmt meine Brille nicht mehr“, meinte sie schon öfter. Also fahren wir mit ihr zu unserem Optiker. Ihre alte Brille ist bestimmt schon ziemlich alt. Das Ganze wird ein mittleres Abenteuer.
Muddi soll die Buchstaben und Zahlen da vorlesen. Sie begreift das nicht. Also bekommt sie einen Text aus der Zeitung. „Ist es so besser oder schlechter?“ wird sie gefragt. Muddi liest unbeirrt den Text vor. Am Schluss kann sie ihn auswendig, denn sie liest ihn immer gleich, egal welche Stärke eingelegt ist. Schließlich bekommt sie dann eine neue Brille für viel Geld. Hoffentlich kann sie jetzt besser sehen.
Ich bezahle das mit Geld von ihrem Sparbuch, das ich immer wieder abhebe und auf ein Extrakonto gebe. Ich hatte vor vielen Jahren, als man noch mit ihnen über alles reden konnte, eine Bankvollmacht für ihr Konto und auch das Sparbuch bekommen. Ich kann das nicht mehr einzeln mit Vaddi abrechnen. Ich habe Vaddi um die Erlaubnis gebeten, immer wieder Geld vom Sparbuch abzuheben, damit ich all diese Dinge bezahlen kann.
Außer dem Taschengeldkonto sind ja noch mehr Dinge zu bezahlen: Zuzahlungen beim Arztbesuch, damals musste man ja pro Quartal 10 € bezahlen, Zuzahlungen für die Ergotherapie, für Medikamente, Lebensmittel, Kosmetikartikel, Blumen für die Wohnung und den Balkon, mal eine Zeitschrift, für Vaddi eine Billigbrille, weil er seine irgendwie nicht mehr fand und die alte Brille von Muddi aufsetzte. Das tut den Augen bestimmt nicht gut. Die Liste ist lang. Sie sind immer so sparsam gewesen in ihrem Leben und ich gebe jetzt ihr Geld aus. Auch für andere Dinge, die sie brauchen. Sie haben sich schon so lange nichts mehr gekauft und haben kaum etwas Schönes zum Anziehen. Allein die Unterwäsche. Und sie müssen es jetzt nicht mehr sparen. Nicht für uns, jetzt sollen sie sich davon etwas gönnen, es ist ihr Geld.
Da Vaddi, trotz seiner Beteuerungen, nie bei sich sauber macht, muss ich mir etwas einfallen lassen. Meist lasse ich in der Küche oder im Bad einen Becher Wasser fallen. „Ach du Schreck! Ich wische das jetzt schnell eben auf“, sage ich dann. Vaddi hält mich inzwischen bestimmt schon für extrem ungeschickt. Oder ich beziehe sein Bett neu, weil Claus ja sonst seine Waschmaschine nicht vollkriegt. Bei uns wäscht Claus. Da ich dann so viel Staub aufgewirbelt habe, möchte ich schnell noch staubsaugen. „Ich mach das schon“, sagt Vaddi dann. „Ach lass mal Vaddi, den Staub habe ich jetzt gemacht, dann muss ich ihn auch wieder wegmachen“.
Manchmal nutze ich auch die Gelegenheit, wenn beide Eltern unten pünktlich beim Mittagessen sitzen, um bei ihm heimlich zu putzen. Ich hab ja einen Zweitschlüssel. Andauernd renne ich auf den Flur, von wo aus man durch das Fenster in den Speisesaal schauen kann. Ich bin jedes Mal schweißgebadet, denn sie essen immer viel zu schnell.
Früher hat Vaddi immer gerne saubergemacht, hat mit Vorliebe den PVC Boden im Flur und Badezimmer mit Wachs behandelt und sich unbändig gefreut, wenn wir zu Besuch kamen und eigentlich gar nicht eintreten wollten, weil wir glaubten, es sei gerade gewischt worden und alles ist noch nass. So glänzend hatte er den Boden bearbeitet. So glänzend vor Freude waren damals auch seine Augen.
Ich kann doch jetzt nicht zu ihm sagen, es wäre bei ihm nicht sauber.
Um die zwei etwas zu bespaßen, holen wir sie oft zu uns. Es ist schön, im Garten zu sitzen, es gibt ein kaltes Bier, so wie früher bei ihnen und danach Kaffee. Zum Abendbrot sind sie wieder zurück. Meist redet nur Vaddi, denn Muddi hat nach wie vor Schwierigkeiten, die richtigen Wörter auszusprechen. Wenn ich mit ihr allein bin, dann verstehe ich sie, dann kann ich auch schon mal den richtigen Anstoß geben, aber Vaddi hat dafür keine Geduld oder vielleicht versteht er auch nicht mehr, dass Muddi das wegen des Schlaganfalles nicht mehr richtig kann?
Erstmals veröffentlich wurde dieser Text als Teil 14 der Reihe „Meine Eltern werden alt“ auf dem Alzheimer Blog. Mittlerweile schreibt Hanna auf ihrem eigenen Blog: Alzheimer Tagebuch.
In Fachartikeln über Alzheimer wird immer wieder auf Weglauftendenz bzw. Hinlauftendenz, wie neuerdings formuliert wird, aufmerksam gemacht. Egal wie es bezeichnet wird, auch Zwecke lebt in permanenter Unruhe. Häufig verspürt sie den Drang auf Toilette zu gehen. Oft stellt sie aber fest, dass sie gar nicht muss. Drängt es sie nicht auf Toilette, drängt es sie in den Korridor um sich ihre Schuhe anzuziehen. Solches Drängen ist für mich untrügliches Zeichen, dass es Zeit ist, etwas gemeinsam zu unternehmen. Wenn zu Hause nichts ansteht, ziehen wir uns an und gehen raus.
Stehen wir vor einem Geschäft, verspürt sie den Drang hineinzugehen. Kaum das wir drin sind, drängt es sie zum Ausgang. Kommen wir an Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel, verspürt sie den Drang in Bahn oder Bus einzusteigen, egal wohin sie fahren. Kaum dass wir in Bahn oder Bus sitzen, verspürt sie den Drang auszusteigen. Auf dem Weg vom S-Bahnhof Alexanderplatz bis zum S-Bahnhof Marzahn will sie zehnmal aussteigen. Bei jeder Haltestelle schaut sie mich fragend an. Erklärungen, wie viele Stationen wir noch fahren müssen bis nach Hause, quittiert sie mit ACH SOO, hat´s jedoch bis zur nächsten Station wieder vergessen.
Als wirklich geeignete Unruhebekämpfungsmaßnahmen bieten sich eben nur Außerhausaktionen an. Allein in den vergangen vier Wochen besuchten wir deshalb, neben den täglichen Einkaufsrunden im näheren Umfeld, mehrmals das EINMAL HIN, ALLES DRIN, den Türkenmarkt am Maibachufer, den russischen MIXMARKT in der Jan-Petersen-Straße, den vietnamesischen Großmarkt in der Herzbergstraße, Einkaufstempel am Alexanderplatz und wenigstens einmal wöchentlich die Gärten der Welt in Marzahn. Wir haben Exkursionen durchgeführt zum Regattafest in Berlin Grünau, zum neu eröffneten KARLS-Hof in Wustermark, zum Tierpark in Kunsterspring, zum Geburtsort von Zwecke, in meine frühere Heimat, zur Brandenburger Landwirtschaftsaustellung in Paaren, auf die Berliner Schlossbaustelle, zum Umweltfest am Brandenburger Tor, zur Tochter nach Magdeburg, zum Karneval der Kulturen in Neukölln/Kreuzberg, zum Russisch-Deutschen Fest auf der Trabrennbahn Karlshorst, zum Ritterfest im Schloss Oranienburg, zum 53. Köpenicker Sommer – mehr war nicht.
Eigentlich wird Zwecke immer dann besonders unruhig, wenn ich mit irgendetwas beschäftigt bin, an dem sie nicht Anteil nehmen kann, z. B. mit Suchen in irgendeinem Geschäft, mit oder am PC im Arbeitszimmer, bei der Essenszubereitung in der Küche – garantieret immer dann, wenn ich sie allein im Wohnzimmer am Fernseher geparkt habe. Ein Fernsehprogramm, das ihre Aufmerksamkeit mehr fordert als ihre permanente Unruhe, ist ganz, ganz schwer zu finden.
Meist steht sie nach spätestens drei bis vier Minuten hinter mir, mit vorwurfsvoll-fragendem Blick. Wenn das mal nicht so ist, schaue ich vorsichtig mal nach ihr und stelle fest, dass Zwecke auf dem Sofa eingeschlafen ist. Nun habe ich etwas Zeit für mich und kann mir Gedanken machen, wie ich Zweckes zwei wesentliche Verhaltenszustände – SCHLAFEN und UNRUHE – in annehmbarer Weise in den Griff bekomme.
In den letzten Wochen habe ich festgestellt, dass der Schlafzustand mehr und mehr Zeit bindet, oder anders betrachtet, Zeit für mich freigibt.
Zwecke drängt es abends immer eher ins Bett, so 20:00/21:00 Uhr, und sie verlässt morgens ihr Bett zwischen 07:00/08:00 Uhr, von mehrmaligen Toilettenbesuchen in der Nacht mal abgesehen.
Es mag wohl daran liegen, dass meine täglichen Unruhebekämpfungsmaßnahmen Zwecke müde machen – weniger physisch – mehr psychisch. Ich finde, das ist ein durchaus praktikabler Weg und ich werde diesen Weg so weiter gehen.
PS: Meine Gesundheitskasse braucht immer höchstens drei Tage für die Abweisung oder Ablehnung eines Antrages oder einer Anfrage mit einem vorgefertigten Textbaustein. Auf eine Entscheidung über meinen Widerspruch gegen die Ablehnung meines Kurantrages warte ich nun schon mehr als drei Wochen. Wahrscheinlich ist das ein gutes Zeichen, denn nach Zusendung der vielen hierzu eingegangenen Meinungen von Zwecke-Freunden sowie einer aktuellen Stellungnahme ihres Neurologen, ist die Bewilligung des Antrags kaum noch abweisbar. Hierfür ist wahrscheinlich noch kein Textbaustein vorgefertigt. Ich selbst bin demzufolge nicht unruhig, wohl aber ungeduldig, fast schon verdrießlich.
Im Jahr 2014 veröffentlichte Hartmut Kretschel jede Woche einen Bericht über das Leben mit seiner Frau "Zwecke", die an Alzheimer erkrankt ist - auf seiner Facebook-Seite und auch auf dem Alzheimer Blog. Mittlerweile sind seine Geschichten als Buch erhältlich: Hartmut Kretschel: Leben im Jetzt, Alzheimer, Berichte über Liebe und Pflege, Edition Forsbach, 2015.
Zu Zweit und doch allein
Seit 54 Jahren ein Ehepaar,
dann ist plötzlich nichts mehr wie es war.
Es kam diese Krankheit, es fing langsam an,
egal wie verändert, er ist trotzdem mein Mann.
Wir hielten zusammen , haben noch viel unternommen
und sind noch ganz viel rumgekommen.
Bis auf einmal, in Konstanz, ich konnt`s nicht versteh `n
wollte er alles Bekannte noch einmal seh`n.
Wir stellten unsere Fahrten ein,
mein Mann durfte auch nicht mehr alleine sein.
Das Leben wurde sehr eingeschränkt,
wenn ich unser Auto fuhr, war er gekränkt.
Ich erklärte ihm oft, warum das so ist,
sein Kommentar war:“Das ist doch Mist,
ich bin ganz normal, mit Führerschein,
hab` auch keine Krankheit, was soll das denn sein.“
Nach 3 Jahren Pflege fehlte mir die Kraft,
ich hab`es alleine nicht mehr geschafft.
Ich bekam für meinen Schatz
einen Tagespflegeplatz.
Doch kurze Zeit später kam der Bescheid
wir müssen ihnen sagen und das tut uns leid,
zu uns kann ihr Mann leider nicht mehr kommen,
er hat sich zu agressiv benommen.
Von da an, wurde es wirklich schwer,
egal wo wir gingen, er wusste es nicht mehr.
Keine Orientierung in den eigenen 4 Wänden,
ich hatte Angst, wie soll das nur enden?
Die Enkel durften nicht mehr kommen,
er hat ihnen das Spielzeug weggenommen,
geschimpft, wenn sie mal lauter lachten
oder etwas durcheinander machten.
Für sie war es schwer, wo ist der Opa geblieben,
der mit ihnen Quatsch macht und den sie lieben?
Auch unsere Tochter mußte erfahren,
das der Vater vergisst, wie sie heißt, wer sie waren.
Nun wurde es auch für mich sehr schwer,
den liebenden Mann, den gab es nicht mehr.
Ich redete mir immer ein,
er kann nichts dazu, er will nicht so sein.
Dann eines Nachts, mir wird`s jetzt noch flau,
durch ein Geräusch, wurd ich wach, das weiß ich genau,
er hatte seine Hände um meinen Hals gelegt,
ich habe mich erst mal nicht bewegt,
doch dann stieß ich ihn zurück mit aller Kraft,
Gott sei Dank hab ich es geschafft.
Ich sah meinen Mann mit verzerrtem Gesicht,
das so was passieren kann, glaubte ich nicht.
Nun sagte auch der Arzt, geben sie ihn frei,
die gemeinsamen Jahre sind nun vorbei.
Wir können verstehen, es fällt ihnen schwer,
aber diese Verantwortung übernimmt keiner mehr.
Nun kam erst mal die Psychiatrie,
er war so aggressiv wie nie.
Es war eine lange und schwere Zeit,
aber endlich war es dann so weit.
Ich konnte ihn mit leckerem Kuchen
nach schwerer Zeit endlich besuchen.
Was ich das sah, war ein gebrochener Mann,
der sich kaum auf dem Polsterstuhl halten kann.
Er saß einsam da und war ganz still
dann kam die Frage, wer ich bin, was ich will.
Damit hab ich nicht gerechnet, ich musste mich erst fangen,
mir liefen die Tränen über die Wangen
und verließ ganz schnell das Zimmer,
Ich hab ihn verloren und zwar für immer.
Das geschlossene Heim war der nächste Ort,
schon seit 5 Monaten lebt mein Mann dort.
Er kann nicht mehr reden, weiß nicht wo er ist
diese Krankheit DEMENZ ist der größte Mist.
Von der großen Verbindung ist nichts mehr geblieben,
doch er ist mein Mann und ich werde ihn lieben.
Doch ich wünsche ihm und das sag ich ganz platt,
das der liebe Gott ein Einsehen hat.
Das klingt zwar hart, doch ihr werdet verstehn
den Mann, den man liebt, möcht` man nicht leiden seh´n.
Die „guten Freunde“, die sind gegangen,
wussten mit dieser Krankheit nichts anzufangen,
aber jetzt sag ich mir, fällt es auch noch so schwer,
diese „Freunde“ brauch ich heut auch nicht mehr.
Die Ärzte meinten, ich sollte schauen,
mich selber wieder aufzubauen.
Es wird nicht Alles wieder gut,
doch allein dies zu schreiben, macht mir Mut.
So wird es in der nächsten Zeit sein,
ICH BIN ZU ZWEIT UND DOCH ALLEIN !!
Anlässlich der FTD-Awareness-Week vom 4. - 11. Oktober 2015 haben wir jeden Tag eine der nachfolgenden Geschichten über das Leben mit Frontotemporaler Demenz (FTD) veröffentlicht. (Ehe-)Partnerinnen und Partner, Eltern und Kinder berichten darin über die Erkrankung ihrer Angehörigen und beschreiben die unterschiedlichen Facetten dieser Krankheit.
Geschichten über das Leben mit Frontotemporaler Demenz
"Möge dir gerade auf deinen beschwerlichen Wegen ein Engel begegnen, der dir die Tränen des Kummers aus den Augen küsst, der deine verzagte Seele zart umwärmt und der dir neue Orientierung schenkt, damit dich die Zuversicht fortan auf ihren Händen trägt." Diesen Segen habe ich von einem anderen FTD-Betroffenen bekommen. Ich denke, jeder kann in dieser so veränderten Zeit einen Engel gebrauchen, um Kraft für den Alltag zu bekommen und das Leben zu meistern.
Nach langen Überlegungen und auch Kämpfen habe ich mich nun doch entschlossen einen kurzen Jahresrückblick über das Jahr 2022 zu verfassen. Wieder ein Jahr mit Kurt geschafft und der schrecklichen Erkrankung FTD. Manche Sachen kann ich schon viel gelassener sehen und auch annehmen, doch fällt es nach wie vor schwer, mitansehen zu müssen, was aus meinem geliebten Mann wird und das tut einfach nur weh.
Seit dem 30. August kann Kurt nicht mehr laufen und sitzt im Rollstuhl. Wir mussten schnell einen Rollstuhl, ein Krankenbett und einen Duschstuhl organisieren. Unser Wellnessraum (Sauna) ist mittlerweile unser Pflegezimmer, wo ich Kurt gut versorgen kann. Er kann von seinem Bett aus Fernsehen, was er sehr genießt. Die Dusche ist mittlerweile behindertengerecht eingerichtet und so kann ich Kurt alleine gut versorgen, was ich auch gerne mache.
Ob die Verschlechterung durch Medikamente ausgelöst wurde oder durch die Erkrankung kommt, wissen wir nicht. Mit Hilfe des Ergotherapeuten oder in der Tagespflege mit zwei Personen läuft er auch wieder kurze Strecken mit dem Rollator. Ich alleine schaffe es nicht, da er mir oft hingefallen ist und ohne Hilfe bringe ich ihn nicht hoch (95 kg). So ist unser Leben nicht einfacher geworden. Sieben Wochen konnte ich mit Kurt das Haus nicht verlassen, da ich mit dem Rollstuhl nicht die zwei Tritte an den Treppenlift komme. Dann habe ich mir selbst eine Rampe gebaut, wo ich mit der Hilfe von zwei Nachbarn, Kurt an den Lift bringe. Das heißt, morgens und abends kommen Toni oder Julius (meine Nachbarn) und sind behilflich, zum Lift zu kommen, denn die Tagespflege nimmt ihn nur vom Hof aus mit.
Ja, mittlerweile muss ich meine ganze Woche planen, da ich Kurt nicht mehr ohne Beaufsichtigung lassen kann. Seit Kurzem geht er nun an vier Tagen in die Tagesbetreuung, nur donnerstags ist er daheim. Da kommt der Physiotherapeut ins Haus, außerdem ist dieser Tag auch für Arztbesuche oder die Fußpflege gedacht. So hat sich mein Leben sehr verändert und ich lerne immer mehr damit klarzukommen.
Viele Dinge, die ich gerne getan habe, sind nicht mehr möglich und so versuche ich an meinen freien Tagen Dinge, die mir guttun, zu machen. Kurt redet leider fast nichts mehr und so sind die Abende für mich besonders schwierig. So freue ich mich über Telefongespräche oder auch Post. Falls ich nicht abheben kann, weil ich mit Kurt beschäftigt bin, geht der Anrufbeantworter ran und ich melde mich, wenn es möglich ist. Gott sei Dank haben wir viele Bekannte, die nach Kurt und auch nach mir schauen, was einfach guttut. Das sind unsere spürbaren Engel, die helfen, mit dem Leben klar zu kommen.
Seit vier Monaten warte ich nun auf eine Rampe, damit ich alleine ohne fremde Hilfe an unseren Treppenlift komme. In der Pflege brauche ich sehr viel Geduld, wahrscheinlich ist das meine lebenslange Übung. Enttäuschungen und Verletzungen in der Familie kosten viel Kraft und müssen ausgehalten und ertragen werden, die leider auch noch Lebensmut rauben. Meine Wochenenden sind immer sehr traurig (ja, unser schönes Heim kommt mir leider oft wie ein Gefängnis vor), da fast keine Ansprache mehr da ist und ich ja immer noch nicht alleine mit Kurt weggehen kann, freue ich mich sehr über Besuch. Kurt kennt ja noch alle, nur das Reden wird immer weniger, man bekommt nur kurze Antworten. So bin ich über jeden Kontakt dankbar (bitte telefonisch melden).
Nun gehen wir ja wieder der schöneren Jahreszeit entgegen, wo es dann auch möglich ist, bei schönem Wetter auf der Terrasse zu sitzen. Unser Rollstuhl besitzt einen Elektroantrieb und so ist es dann hoffentlich auch wieder für Kurt möglich, an den Heimspielen auf seinen geliebten Sportplatz zu fahren – mit Hilfe von Julia und Familie oder den Freunden.
So nun habt Ihr etwas Einblick in unser Leben. Ich wünsche Euch ein gutes Jahr 2023, bleibt gesund und genießt das Leben.
Ja, erst wenn man etwas verloren hat, schätzt man noch mehr, was man hatte!
Wir durften viele schöne gemeinsame Jahre haben und nun heißt es für mich, die Änderungen und Anforderungen zu meistern, die mir das Leben stellt. Gott sei Dank ist Kurt zufrieden, nicht aggressiv, er möchte ja immer noch 93 Jahre alt werden. Gerne macht er immer noch seine Holzkisten, malt Mandalas oder spielt mit seinem Tablett. Ich möchte und muss noch mehr lernen, von den schönen Jahren zu zehren, was mir leider noch nicht so sehr gelingt.
Meine Empfehlung an alle: Erfüllt Euch Eure Träume und Wünsche, solange dies möglich ist, irgendwann geht ist es nicht mehr.
Liebe Grüße von Inge und Kurt
Ich bin 48 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, 15 und 18 Jahre alt. Mein Mann ist vor 2 Jahren im Alter von 49 ½ Jahren an FTD verstorben. Wir haben ca. 10 Jahre mit FTD gelebt, den Großteil davon ohne es zu wissen.
Die Diagnose war Schock und Erleichterung zugleich
Als wir die Diagnose erhielten, hatten wir schon viele sehr belastende Jahre hinter uns. Eine Diagnose war erst nach Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung und anschließender Zwangseinweisung in die Psychiatrie möglich.
Die Diagnose war Schock und Erleichterung zugleich. Ein Schock angesichts dieser vernichtenden und endgültigen Diagnose, Erleichterung und Versöhnung, weil es endlich eine Erklärung für all das Unerklärliche und Verrückte gab, das wir erlebt hatten. Die Kinder waren zu dem Zeitpunkt 9 und 13 Jahre alt. Mein Mann benötigte eine 24 Std.-Beaufsichtigung und Betreuung, die ich mit Beruf und zwei Kindern nicht bieten konnte. Also musste ich einen Heimplatz für einen 45jährigen, sportlichen Mann mit FTD finden.
Als Angehörige muss man selbst Profi für die Krankheit werden
Ich habe schnell lernen müssen, dass man als Angehörige eines FTD-Patienten selbst Profi für die Erkrankung werden muss, sonst ist der Patient hoffnungslos verloren. Auf die meisten sogenannten Fachärzte konnte man sich jedenfalls nicht verlassen.
Also Ärmel hochkrempeln und sich schlau machen. Das Internet-Forum der Deutschen Alzheimer Gesellschaft für FTD-Angehörige war meine erste Rettung. Zum Glück gab es dann auch schnell eine Tagung in der Nähe, die ich besuchen konnte, und das nächste Glück waren die beiden Frauen, die ich dort kennengelernt habe. Mit beiden bin ich immer noch in Kontakt, eine davon ist eine Freundin geworden.
Wir drei haben mit Unterstützung des Alexianer Krankenhauses Krefeld eine Selbsthilfegruppe gegründet, meine nächste Rettung. Dieses Jahr feiern wir unser fünfjähriges Bestehen mit einer großen Veranstaltung.
Das Heim wurde ihm behütetes Zuhause
Oft war ich fassungslos über die Ignoranz und das Nichtwissen mancher Fachärzte, aber ich hatte das Glück im Alexianer Krefeld auf einen kompetenten Oberarzt zu treffen, der mit mir gemeinsam eine sanfte Medikation für meinen Mann eingestellt hat. Dennoch musste ich irgendwann einsehen, dass mit fortschreitender Erkrankung, aufgrund seiner Unruhe, seines mangelhaften Sozialverhaltens und Unkenntnis der Straßenverkehrsregeln, eine geschlossene Unterbringung erforderlich wurde.
Wir hatten das große Glück eine Facheinrichtung, die ihren Namen verdient, in Wohnortnähe zu finden und festzustellen, dass die geschützte Unterbringung ein Segen für meinen Mann war. Er hatte ein behütendes Zuhause gefunden. Wir haben ihn weiter so gut wie möglich an allem teilhaben lassen. Und das ging nur mit viel Humor, so z. B. als mein Mann eine Kugel vom Weihnachtsbaum pflückte, in den Mund steckte und zerkaute.
Wir haben Narben davon getragen, sind aber auch gewachsen
Leben mit FTD bedeutet einen ständigen Kampf. Man braucht als Angehörige/r Haare auf den Zähnen, Wissen um die Erkrankung, andere Betroffene, viel Unterstützung, Offenheit und viel Humor. Leben mit FTD bedeutet auch, leben mit der ständigen Angst vor einem Anruf, weil „er“ wieder was angestellt hat, sich etwas verschlechtert hat, schwierige Entscheidungen gefällt werden müssen und irgendwann auch die Mitteilung über den Tod.
Wir haben es überstanden, einige Narben davongetragen, aber wir sind auch gewachsen. Wir haben es geschafft weil Freunde und Familie uns vier unermüdlich gut unterstützt und auf mich aufgepasst haben. Für die Kinder war vor allem ein offener Umgang mit der Erkrankung wichtig. Meine Tochter erklärte irgendwann jemandem: „Ich habe keine Probleme mit der Krankheit meines Vaters, meine Mutter hat mir immer alles so gut erklärt, dass ich damit umgehen kann.“
Ich wünsche allen, die noch mittendrin stecken, viel Kraft, viel Humor und viele liebe Menschen, die sie unterstützen!
Mein Mann und ich sind seit 30 Jahren verheiratet. Ich bin 53 Jahre alt, er ist 55. Seit 25 Jahren betreiben wir gemeinsam einen Handwerksbetrieb mit 4-5 Angestellten. Das heißt, wir haben den Betrieb zusammen aufgebaut. Er hat sich ums Handwerk gekümmert, ich um den Verkauf.
Im Herbst letzten Jahres haben wir die Diagnose FTD erhalten. Von dieser Krankheit hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Das Tückische an dieser Sache ist, dass man bei bestimmten Verhaltensweisen nie genau weiß, ist das jetzt die Krankheit oder nicht. Man meint halt immer, etwas dagegen tun zu müssen. Ihn ermahnen oder maßregeln und ich habe immer noch nicht ganz kapiert, wie ich richtig damit umgehe...
Er wurde immer ungerechter mir gegenüber
Seit einigen Jahren hat sich mein Mann hauptsächlich im Umgang mit mir sehr verändert. Er ist eigentlich ein recht netter ruhiger Mensch. Doch in den letzten fünf Jahren wurde er immer ungerechter, immer gab er mir die Schuld an allen Problemen. Er selbst hat sich um Dinge in der Firma wie Abläufe, Telefonate, organisatorische Angelegenheiten immer weniger bis gar nicht mehr gekümmert. (Heute weiß ich, dass er geschäftliche Telefonate nicht mehr richtig führen kann, weil er die Wörter und Namen nicht mehr schnell genug verarbeiten kann.)
Unsere Angestellten standen eines Tages heulend vor mir und sagten, sie könnten die Situation nicht mehr ertragen. Das hätte ich als Frau nicht verdient, dass er so mit mir umgehe. Eine Mitarbeiterin hat sofort gekündigt. Mein Mann war der Meinung, das liege alles an mir. Ich glaubte, wir hätten uns so stark auseinandergelebt, dass einfach nichts mehr funktionierte.
Allen gerecht zu werden, ist sehr schwierig
Ein Besuch beim Neurologen erbrachte die Diagnose „Alzheimer-Demenz“. Seine Aussage war, mein Mann könne höchstens noch 1-2 Jahre in der Firma arbeiten, und dann gehe nichts mehr. Das war ein Schock für mich. Nach einiger Suche nach weiteren Diagnosen sind wir schließlich in der Klinik der TU München gelandet, wo dann FTD festgestellt wurde. Bei meinem Mann bin ich mir bis heute nicht sicher, ob er das überhaupt selbst wahrnimmt oder realisiert. Für mich heißt es nun, die Firma irgendwie weiter zu führen und dabei meinen Mann nach seinen Fähigkeiten zu integrieren. Das ist wahnsinnig schwierig, weil man jedem gerecht werden muss. Den Angestellten, den Kunden, dem ganzen geschäftlichen Umfeld und eben meinem Mann.
Auf der anderen Seite ist mein Mann noch weit davon entfernt, ihn komplett zuhause zu lassen oder gar in eine Einrichtung zu geben. Ich habe das Gefühl, je mehr er gefordert wird, desto langsamer verschlechtern sich manche Dinge. Das Traurige an der Situation ist die Wesensveränderung auch mir gegenüber. Er behandelt mich als ein „Wesen.“ Er erzählt den ganzen Tag vom Wetter, aber es gibt keine Möglichkeit mehr sich richtig zu unterhalten. Wenn ich anderer Meinung bin als er, erhalte ich immer die gleiche Antwort: „Ich mach ja eh‘ alles verkehrt.“ Da weiß man nie, soll man sich ärgern oder Mitleid haben?
Die Kränkungen gehen tief
Mit Humor könnte es vielleicht leichter gehen, wenn nur die Seele nicht so gekränkt wäre. Durch diese lange Zeit der Kränkungen hat sich in meine Seele eine tiefe Wunde gerissen. Ich wünschte, dass wenigstens diese wieder zuheilt. So könnte ich vielleicht auch, wie man es im Internet oft nachlesen kann, mit Liebe und Humor an die Sache heran gehen. Aber so ist es einfach schrecklich schwierig. Manchmal, wenn wir in Gesellschaft sind, benimmt mein Mann sich wie ein 5jähriges Kind. Im Geschäftsleben ist das natürlich genau das Richtige… Trotz allem werde ich natürlich bei meinem Mann bleiben und ihm zur Seite stehen.
Wenn nur die Scham nicht wäre
Ich muss jetzt mit dieser Krankheit an die Öffentlichkeit gehen, bzw. muss ich die Menschen in unserem Umfeld schön langsam darüber informieren. Ich wünschte mir, dass ich mich für meinen Mann nicht so schämen würde. Es fällt mir ausgesprochen schwer, mit Geschäftspartnern über die Situation zu sprechen. Da möchte ich im Erdboden versinken. Ich weiß nicht warum: wenn jemand Krebs hat, spricht man offen darüber, bei dieser Krankheit aber habe ich eine riesige Hemmschwelle. Ich habe ja noch wenig Erfahrung mit dieser Situation, aber es hat mir wirklich geholfen, als ich zur FTD-Angehörigengruppe gegangen bin. Denn dort sind meine letzten Zweifel, dass es ja vielleicht doch etwas anderes sein könnte, weniger geworden.
Vor ungefähr zwei Jahren hatten sich die Tätigkeiten, die mein Vater selbstständig ausführen kann, bereits drastisch reduziert. Eines Tages erklärte er mir ganz stolz, wie er die Kaffeemaschine betätigt. Er schien fasziniert, dass man einfach Wasser und Kaffeepulver eingibt, auf einen Knopf drückt, und schon wird Kaffee produziert. Warum musste ich da Tränen unterdrücken? Weil dieser Mann, den ich doch so lange und so gut kenne, einfach nicht mehr derselbe war. Er sieht aus wie mein Vater, er hört sich an wie mein Vater, aber das kann er doch nicht sein, oder? Ist das der gelernte Sanitärinstallateur, der sein Hobby Elektrotechnik zum Beruf gemacht hatte? Der im Alter von 35 Jahren erst Schwimmen lernte und gleich anschließend einen Windsurfing-Kurs belegte? Der einfach alles konnte? Sport, Heimwerkerarbeiten, Amateurfunk, Kochen? Der für jeden Spaß zu haben war und Ironie liebte? Dieser Mann, der aussieht wie mein Vater, kann sich nicht einmal mehr ein Frühstücksbrot schmieren, kann nicht zwischen sachlicher Aussage und Witz unterscheiden und manchmal bin ich nicht einmal sicher, ob er mich wirklich erkennt…
Die Diagnose hilft
Mein Vater wurde im Jahr 2012 mit FTD diagnostiziert. Endlich eine Diagnose (und damit ein paar Antworten) zu haben, hat meiner Mutter und mir sehr geholfen. Für meinen Vater selbst macht es keinen Unterschied, da er sich nicht bewusst ist krank zu sein, bzw. sich dahingehend nicht äußern kann. Wir hoffen allerdings, dass unsere Kenntnis und unser Verständnis ihm helfen.
Ständig neue Ticks
Durch die Krankheit hat sich mein Vater sehr verändert. Nicht nur zu Beginn, sondern er verändert sich immer weiter und entwickelt ständig neue Gewohnheiten/Ticks. Für meine Mutter ist das sehr schwierig, da fast jedes Mal wenn sie sich auf eine neue „Macke“ eingestellt hat, schon wieder die nächste auftaucht. Kaffee kochen war, wie gesagt, lange Zeit eine der wenigen Tätigkeiten, die mein Vater noch selbstständig ausüben konnte. Er hatte allerdings den Drang, die Kaffeedose mit mehr Kaffeepulver aufzufüllen, sobald nur ein Drittel aufgebraucht war. Den Rest hat er dann einfach in die Spüle geschüttet und damit einige Male den Abfluss verstopft. Er hat schon immer gerne Kaffee getrunken, aber mittlerweile ist der Genuss zum Zwang geworden. Ständig gießt er sich eine Tasse ein, vergisst dann jedoch oft, sie auch zu trinken. Er vergisst sogar, dass er schon mehrere Tassen Kaffee vor sich stehen hat und holt sich mehr. Wenn er keine Tassen mehr findet, greift er auch schon mal zu Bierkrügen. Meine Mutter macht jeden Tag mehrmals Rundgänge durchs ganze Haus und sammelt leere und volle Tassen ein.
Vor dem „Kaffee-Tick“ hatte er einen „Wasser-Tick“. Meine Eltern hatten schon immer jeweils eine Flasche Mineralwasser neben dem Bett stehen, falls sie nachts Durst bekommen. Mein Vater fing jedoch auf einmal an, immer mehr Flaschen (15!) neben den Betten aufzureihen. Er hatte auch eine Abneigung gegen nicht volle Flaschen entwickelt. Sobald irgendwo im Hause eine Mineralwasserflasche (sprudelnd) angebrochen war, hat er solange verschiedene Flaschen umgefüllt, bis alle voll waren.
Fast eine Komödie
Ich fürchte, ich habe so einige Male die Gefühle meiner Mutter verletzt, indem ich einfach losgelacht habe, wenn sie mir von den neuesten Vorfällen am Telefon berichtet hat. Wenn es ihr selbst gut geht und sie die Lage im Griff hat, dann findet auch sie, dass ihr Leben manchmal einer Komödie gleicht. Da sie jedoch schon seit ungefähr fünf Jahren versucht, das Beste aus einer schwierigen Situation zu machen, vergeht ihr leider hin und wieder das Lachen.
Meine Mutter besucht regelmäßig zwei Selbsthilfegruppen, was ihr eine große Stütze ist. Wenn wir unsere Situation mit der von anderen vergleichen, sind wir oft sehr erleichtert, da andere Betroffene von wesentlich drastischeren Situationen berichten. Wir wissen jedes Bisschen Kommunikation, das mit meinem Vater noch möglich ist, zu schätzen und sind dankbar, dass er nicht gewalttätig ist oder für sich oder andere eine Gefahr darstellt. Für mich (ich wohne im Ausland) bedeutet das, dass ich etwas ruhiger schlafen kann. Auch meine Mutter tröstet sich oft mit dem Gedanken, dass es ja noch viel schlimmer sein könnte. Tatsache ist jedoch, dass die eigene Situation nicht wirklich leichter wird, nur weil es jemand anderem noch schlechter geht.
Starke Nerven, Humor und Freunde
Um für einen demenzkranken Menschen zu sorgen, braucht man auf jeden Fall starke Nerven, eine gesunde Portion Humor und die Unterstützung von Freunden, Verwandten und Fachpersonal. Ich bin überzeugt, dass langfristig diese drei Dinge nötig sind, um nicht zu verzweifeln. Es hat eine Weile gedauert, bis wir die richtigen Ansprechpartner gefunden haben, aber jetzt schätzen wir uns glücklich über ein so gutes Unterstützungsnetzwerk zu verfügen. Auf professioneller Seite können wir uns auf Hausärztin, Fachärztinnen, Sozialarbeiter und Pflegepersonal verlassen, und im privaten Bereich haben sich Freunde und gute Nachbarn als Segen erwiesen. Dies gibt meiner Mutter praktische Hilfe und moralische Unterstützung und mir Seelenfrieden.
Ich kann nur jedem empfehlen nicht aufzugeben, es gibt viele wunderbare Menschen im Pflegebereich und unter den Freunden. Auch sollte niemand sich scheuen, anderen von der eigenen Situation zu berichten. Sie werden sich wundern, wie viele Menschen selbst in einer vergleichbaren Lage sind und wie viele Menschen Verständnis zeigen und Hilfe anbieten!
Haben Sie schon mal eine wunderschöne Blume beim allmählichen Verblühen beobachtet? Wer meine Gisela vor der Erkrankung 2006 kannte, bewunderte sie wegen ihres sehr gepflegten Aussehens, immer auf „Hochglanz poliert“, strahlend, freundlich, lustig. Doch dann kam plötzlich die totale Veränderung des Wesens meiner Frau, sie wurde eine Fremde. Alle standen vor einem Rätsel.
Gemeinsam erlebten wir die grausame Diagnose „Frontotemporale Demenz“, die mittlerweile acht Jahre zurückliegt und die teilweise schreckliche Veränderung meiner Frau bewirkte. Ihre Aggressionen und Zerstörungen im Haus, eine fast zwei Jahre dauernde Sprachlosigkeit, ihre Unfähigkeit, sich zu pflegen oder irgendetwas zu tun. Oder die Phasen heftiger Erstickungsanfälle, wo man immer mit dem Schlimmsten rechnen musste. Dann Hilferufe auf dem Balkon, die Blicke der Nachbarn, die Fragen der Polizei... Fünf Klinikaufenthalte in München und Umland halfen nur über extreme Phasen hinweg. Ärztliche Betreuung, Kombipflege und die Hilfe der Pflegerinnen waren und sind jedoch eine große Entlastung.
Veränderungen
Wenn man Freunde verlieren will, dann ist FTD ein sicheres Mittel dazu. Diese seltene Krankheit scheint irgendwie ansteckend zu sein. Unser großer Bekanntenkreis brach einfach weg, wir hatten fast nur noch die Familie. Zwei unserer drei Kinder sind weit weg (Südafrika, Heidelberg), kleinere Hilfen kommen aber vom Sohn. Mittlerweile sind seit ca. zwei Jahren, vermutlich durch Medikamentenwechsel bzw. –reduzierung, einige Dinge einfacher.
Ich habe wegen unseres Zwergschnauzers Guido jeden Tag ca. zwei bis drei Stunden Gassi-„frei“, um mich zu erholen. Über mein Smartphone werde ich durch Gisela oft unerträglich kontrolliert. An drei Tagen pro Woche für je drei Stunden ist meine Frau in einem durch den Bezirk Oberbayern geführten Clubhaus. Zeit, um wichtige Aufgaben im Haushalt erledigen, da sonst fast alle wichtigen Arbeiten durch ihre Proteste verhindert werden.
Aktuell bei ihr und mir
Zurzeit dominieren bei Gisela extreme Ängste mit permanenten Fragen wie „Kommst Du wieder?“ sowie zunehmend nachlassendes Kurzzeitgedächtnis bei gleichzeitig wahnhaftem Verhalten. Verlust ihrer Logik gepaart mit extremer Kontrolle, Geschmacksstörungen, gravierender Unruhe usw.! Keinerlei eigene Beschäftigung wie Lesen, selten hat sie Interesse für Andere und Anderes. Seit etwa zwei Monaten kann sie wieder fernsehen, für mich sensationell! Trotz Aufforderungen ist sie seit acht Jahren nicht mehr aus dem Haus gegangen. Viele Dinge wie Waschen, Essen, Trinken, Kontakte mit Anderen funktionieren nur mittels Erpressungen, zum Beispiel der Drohung mit Zigarettenentzug.
Wie ich dies alles aushalten kann, wo doch selbst Pflegerinnen schon nach 15 Minuten flüchten? Nun, Ärzte und Familie drängten mich, endlich zeitweise aus dem Hamsterrad auszusteigen. Ein Platz im Pflegeheim kommt nach 55 Jahren Ehe für mich nicht in Frage. Mein älterer, 80jähriger Bruder vertritt mich ab und an bei der Betreuung.
Jetzt suche ich mir jährlich drei bis fünf Wochen nachhaltige Urlaube wie eine Safari in Südafrika mit der dort lebenden Familie, ein Tauchkurs am Roten Meer, Fallschirmspringen, Freifalltraining im Windkanal und Bergsteigen einschließlich journalistischer Berichterstattung. So tanke ich immer wieder viel Power auf, um den Weg mit meiner lieben Frau weiter zu gehen.
Ich schreibe aus der Sicht der Ehepartnerin. Anfang 2007 fiel mir auf, dass mit meinem Mann etwas nicht stimmte. Er war Ingenieur, 47 Jahre in einer Erdölraffinerie tätig und war immer ein guter Handwerker gewesen. Er konnte einfach alles, er machte die Steuererklärungen, alles Handwerkliche in und ums das Haus und alles was mit dem Wohnwagen zu tun hatte. Aber es fiel ihm immer schwerer, und als er im Wohnwagen das Gas nicht mehr zuverlässig anschließen konnte, wurde ich hellhörig.
Demenztests und MRT bestätigten den Verdacht und die Diagnose lautete „Frontotemporale Demenz“. Ich bildete mich im Internet und war überrascht, weil dort die Krankheit mit schlimmer Aggressivität beschrieben wurde, womit die Angehörigen zu kämpfen hätten. Mein Mann aber ist lieb, dankbar, humorvoll, kann gut mit Zahlen und Buchstaben umgehen, aber er vergisst eben alles sofort wieder. Auf meine Frage, ob die Diagnose gesichert sei, wurde mir gesagt. „ja, es gibt eben Ausnahmen, die nicht aggressiv reagieren“.
Mein Mann ist z.B. beim Fernsehen oft ganz klar in seinen Reaktionen und Äußerungen, aber für eine weitergehende Diskussion reicht es nicht, und das Gesagte ist schnell vergessen. Wenn er dann „klar“ wirkt, vergesse ich oft, dass er dement ist und reagiere verkehrt, was zu Unstimmigkeiten im Gespräch führt.
Er spürt, dass etwas mit ihm nicht stimmt
Ich glaube, mein Mann spürt seine Veränderung, denn er scheint zu leiden. Morgens bekomme ich auf mein „Guten Morgen“ die Antwort: „Ich weiß, ich bin dummes Schwein, kannst Du mir nochmal verzeihen?“ Diese Sätze „Kannst Du mir nochmal verzeihen?“ und „Ich weiß ich bin ein dummes Schwein“, verfolgen mich mehrfach am Tag und ich muss mich bemühen, nicht ärgerlich darauf zu reagieren. Ich sage dann: „Schätzchen, wenn Du ein dummes Schwein wärst, dann hättest Du eine dumme Kuh geheiratet.“ Je ausgeglichener ich bin, umso seltener kommen diese Sätze.
Auch Lachen gehört dazu
Er hat auch ganz viele Sprüche auf Lager, worüber sich die Leute amüsieren, aber es sind immer die gleichen und sie werden weniger und sie werden meist dann gesagt, wenn er sich verunsichert fühlt. Beispiele: „Ordnung muss sein, sprach der Hahn und kletterte von der Ente.“ Oder „ein Schwein ist ein Schwein, das weiß ich genau, die Kinder sind Ferkel und die Mutter ist…?“ - „aber Sau sagt man doch nicht!“ Oder: „Schon 3 Tage von zuhause weg und immer noch kein Fettpaket.“
Ich habe gelernt, ausgeglichener zu sein, mit mehr Humor zu reagieren. Auch bei der Zeitplanung und Mobilisierung musste ich raffinierter in meinen Argumenten werden, da er immer müder wird und wenig Lust hat, sich zu bewegen.
Bei ihm ist alles „liebevoll“
Eines seiner Lieblingsworte ist „liebevoll“: „Wir wollen liebevoll jetzt ins Bett gehen“, alle anstehenden Tätigkeiten wollen wir „liebevoll“ miteinander machen. Das ist so wunderbar, dass ich bei allem Angebundensein und Anforderungen an meine Geduld, dankbar dafür bin, dass mein Mann so ist wie er ist. Andere Ehepartner haben wesentlich mehr unter der Demenz der Partner zu leiden. Mit Hilfen über die Johanniter und 2 Mal pro Woche Tagesbetreuung kann ich mir Freiräume schaffen, die mir gut tun.
Unser Sohn Florian (geb. 1975) war ein begabter Junge, der in der Schule auffiel durch Eigenwilligkeit und soziales Engagement. Er machte sein Abitur, studierte, war mit Leib und Seele bei seiner Arbeit als Diplom-Sozialpädagoge, heiratete, schließlich kamen zwei entzückende Kinder – eine ganz normale Biografie und alles in bester Ordnung – und nun das: Frontotemporale Demenz.
Zwei schlimme Jahre, bis die Diagnose feststand
Der Diagnose vorausgegangen waren zwei wirklich schlimme Jahre, voller Aufregungen und endloser Bemühungen um den offensichtlich schwer erkrankten Sohn. Nachdem ihn seine Frau mit den Kindern verlassen hatte, zog er sich von allen und allem zurück, sprach immer weniger, vernachlässigte schließlich seine Arbeit ebenso wie seine privaten Kontakte. Wir hatten Mühe, ihn überhaupt einer ärztlichen Behandlung zuzuführen. Schließlich begann eine Odyssee durch psychosomatische und psychiatrische Kliniken. Schwere Depression, Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie – das waren Vermutungen, die im Raume standen.
Es dauerte fast ein Jahr, bis erstmals die Verdachtsdiagnose FTLD* geäußert wurde, und wiederum vergingen Monate, bis dieser Verdacht weitgehend Bestätigung fand. Ein halbes Jahr verbrachte Florian in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie. Die vorgesehenen diagnostischen Untersuchungen erfolgten nur schleppend oder gar nicht. Am schlimmsten aber war die Behandlung, die er durch das Pflegepersonal erfuhr, völlig konträr zur Diagnose und in keiner Weise die typischen Symptome berücksichtigend. Auffälliges Verhalten, wie es typisch für FTD-Kranke ist, wurde mit fragwürdigen Erziehungsmaßnahmen geahndet. Fixieren, Isolieren waren an der Tagesordnung.
Er war jung, fit, gut orientiert – schlechte Voraussetzungen
Daher waren wir froh, als sich ein Wohnheim für jüngere psychisch Kranke bereit erklärte, ihn aufzunehmen. Doch mein Sohn hatte leider die ungünstigsten Voraussetzungen, die man sich im Verbund mit dieser Krankheit vorstellen kann: Relativ jung, männlich, körperlich fit, mit noch guter Orientierungsfähigkeit und Gedächtnisleistung. Die offene Wohngruppe, in der man freundlich und verständnisvoll mit ihm umging, lag jedoch in einer Innenstadt. Das Taschengeld war knapp und die Gier nach Süßem groß. Es dauerte nicht lange, da bediente er sich an einem Kiosk ohne zu bezahlen, und das Probe-Wohnen wurde abgebrochen.
Nun war guter Rat teuer. Wie sollte es weiter gehen? Wohin mit ihm? Eines stand fest: Auf keinen Fall zurück in die Psychiatrie. Also holten wir ihn erst einmal nach Hause. Dass wir Eltern (65 und 70 Jahre alt) diese Aufgabe nicht lange in ihrem vollen Umfang würden bewältigen können, war uns klar.
Bei der Suche nach einer guten Unterbringung mailte und telefonierte ich quer durch die Republik und endlich wurde uns Hilfe zuteil: Innerhalb einer Woche bekamen wir Termine an der Neurologie der Uni-Klinik Ulm, wo durch unterschiedliche diagnostische Verfahren FTLD bestätigt wurde.
Durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft in Berlin erhielten wir wichtige Informationen über die Krankheit und Kontaktmöglichkeiten zu anderen Angehörigen. Eine kompetente Mitarbeiterin des Münchner Vereins Wohlbedacht half uns durch wertvolle Tipps besser mit der Krankheit umzugehen. Mich persönlich besonders entlastet hat der Rat zu einem „gewährenden“ Umgang mit meinem Sohn. Ich muss ihn, der mehr und mehr wieder zum Kind regrediert, nicht mehr erziehen. Es ist mir erlaubt, im Rahmen des Möglichen, das zu tun, was er „will“, auch auf skurrile Wünsche und Marotten einzugehen. Das hat sich wesentlich entspannend auf unseren Umgang miteinander ausgewirkt.
Auch im Pflegeheim ist man überfordert
Mit Unterstützung des behandelnden Neurologen erklärte sich inzwischen ein Demenzheim in unserer Nähe bereit, Florian als jüngsten Bewohner aufzunehmen. Nach vielversprechenden Anfängen scheiterte auch dieser Versuch der Unterbringung. Doch man war einfach nicht darauf eingerichtet, unseren körperlich mobilen Sohn im Auge behalten zu können. Unbemerkt vom Personal konnte er das Haus verlassen und versuchen in fremde Fahrzeige zu steigen, um „nach Hause“ zu fahren. Also konnte er auch dort nicht bleiben.
Eine wichtige Erfahrung, die wir im Umgang mit der Krankheit unseres Sohnes machen mussten, war dies: Kaum jemand unter den Pflege-Profis ist wirklich vertraut mit diesem Krankheitsbild, dem Verlauf, den Symptomen. Es gibt, zumindest in unserer Umgebung, keine wirklich „passende“ Einrichtung für einen jüngeren FTD-Kranken. Fachpflegeheime für jüngere psychisch Kranke scheuen die Aufnahme wegen des besonderen Problemverhaltens. Die üblichen Heime für Demenz-Erkrankte sind auf „Alzheimer“ und „Alter“ spezialisiert.
Die einzige Möglichkeit: Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu Hause
Seit Mitte Dezember vergangenen Jahres lebt er nun bei uns zu Hause. Durch das Fortschreiten der Krankheit bedeutet das inzwischen eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, bei der uns ein Helfer der benachbarten Sozialstation täglich mehrere Stunden lang unterstützt. Ich denke mittlerweile, wir sind es, die am besten auf unseren Sohn eingehen können, sein Verhalten am ehesten verstehen.
Bei all der Tragik, die diese Diagnose mit sich bringt, freuen wir uns auch an den schönen Seiten des Zusammenseins und sehen der ungewissen Zukunft mit unserem Sohn inzwischen gelassener entgegen.
* FTLD – Frontotemporale lobäre Degeneration ist der vollständige Fachbegriff für das Krankheitsbild
Ein Tag im Juli 2015. Es sind fast zwei Jahre seit der Diagnose Frontotemporale Demenz vergangen. Ich sitze im Arbeitszimmer und schaue auf eine Stadt im Sommer, strahlend blau ist der Himmel, die Sonne tut mir gut. Den Park gegenüber haben Leute in Beschlag genommen, sie scheinen das Wetter und das Leben zu genießen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich seit zwei Jahren von einem normalen Leben wie es die Leute im Park leben, isoliert bin.
Die Diagnose hatte mich damals, obwohl ich in der Pflege arbeite, total aus der Bahn geworfen. Plötzlich war nichts mehr wie es war, ein schwarzes Loch, kein Licht am Horizont, die pure Angst hatte mich in Beschlag genommen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir ein Jahr verheiratet, insgesamt 17 Jahre zusammen. Die Diagnose passte absolut nicht in unsere Planung, die war eine andere gewesen, da war eine Frontotemporale Demenz mit ihren Folgen nicht vorgesehen.
Die Normalität im Chaos
Jetzt resümiere ich die vergangenen zwei Jahre, schaue auf den Weg, den wir bis heute gegangen sind. Und als erstes stelle ich fest: Unser Leben ist trotz allem schön und ich möchte keine Minute davon missen, nicht die schweren und schon gar nicht die schönen Momente. Die letzten zwei Jahre haben mich zu einem anderen Menschen gemacht, auf der einen Seite stark und kämpferisch und andererseits verwundbar und zerbrechlich.
Du warst und bist die Liebe meines Lebens und als uns bei deinem ersten Krankenhausaufenthalt die Diagnose ziemlich rücksichts- und gefühllos mitgeteilt wurde, war mein erster Gedanke - jetzt heißt es kämpfen. Bewusst habe ich in der ersten Zeit sämtliche Informationen zur FTD gemieden, ich musste erstmal mit dem Chaos, welches in mir wütete, klar kommen. Dass dieses Chaos während der letzten zwei Jahre immer mal wieder seine Besitzansprüche geltend machen will, ist schon fast zur Normalität geworden. Ich versuche für uns einen relativ normalen Alltag zu organisieren und zu leben. Sehr früh war mir bewusst, dass eine feste Tagesstruktur, jahrelange Gewohnheiten und liebe Menschen in unserem privaten Umfeld das Zulassen der Krankheit aufschieben können.
Passende Hilfsangebote sind schwer zu finden
Während des letzten Aufenthaltes im Uniklinikum wurde ich auf verschiedene Hilfsangeboten für Angehörige im Alltag aufmerksam gemacht, u.a. gibt es durch Betreuungsvereine das Angebot der Entlastung von Angehörigen. Es war nicht sehr einfach unter den vielen Angeboten das passende zu finden. Die Zusammenarbeit mit einem solchen Verein gestaltete sich zunehmend problematisch, was einerseits sicher auch an der Antipathie lag, die mein Mann gegenüber der Frau des Betreuungsvereines hatte. Andererseits wurden Absprachen bezüglich der Angebote nicht eingehalten. Das Ganze gipfelte zum Schluss darin, dass die Frau des Vereines nach einem Spaziergang meinen Mann allein in der Stadt zurückließ.
Im Moment habe ich für die niederschwelligen Betreuungsleistungen einen Pflegedienst engagiert, der mit einer auf meinen Mann zugeschnittenen Therapie, bestehend aus Gedächtnis- und Sprachtraining wirklich Enormes leistet.
Familienpflegezeit wird für Entlastung sorgen
Auf jeden Fall steht eines für mich fest: mein Mann wird ein Pflegeheim nie von innen sehen müssen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Familienpflegezeit, die ich ab Oktober für die volle Dauer von 24 Monaten in Anspruch nehme. Als zweiten Schritt sehe ich die Gründung eines Vereins, der die Betreuung von dementiell Erkrankten und ihren Angehörigen mit therapeutischen Aspekten begleitet, d.h. in Zusammenarbeit mit Ärzten, Kliniken, Physio-, Psycho- und Ergotherapeuten, Pflegediensten, Kranken- und Pflegekassen.
"Nein", denke ich, als ich an einem Abend nach Büroschluss nach Hause komme, was ist los mit meinen Mann? "Ich gehe nicht mehr in diese Schule, ich werde mit den Schülern nicht mehr fertig, es wächst mir alles über den Kopf", teilte mein Mann mir erschöpft auf dem Sofa sitzend mit. "Meine Güte", denke ich, "mir wird mein Büro auch manchmal zu viel, deswegen schmeißt man nicht gleich hin."
Ohne irgendwelche weiteren Gedanken um seinen Zustand riet ich ihm zu einem Arztbesuch, was er auch am nächsten Tag gleich in die Tat umsetzte. "Burnout" lautete erst einmal die Diagnose. O.K., also am besten sechs Wochen Klinikaufenthalt, kann ja nicht schaden.
Eine niederschmetternde Diagnose
Mein Mann packte ein paar Tage später seinen Koffer und fuhr in die Klinik. Es tat ihm gut, allerdings wurden auch mehrere Tests gemacht, Gedächtnisübungen usw. Nach Ende der Therapie die niederschmetternde Diagnose "Verdacht auf Alzheimer"! Ich denke, die meinen nicht meinen vitalen, sportlichen Ehemann, der ja Burnout hat, es muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich machte sofort nach Entlassung einen Termin in einer neurologischen Klinik, doch auch da keine andere Aussage. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, wir waren doch noch zu jung für so eine Geschichte, wir hatten 10 tolle Jahre, und das soll es jetzt gewesen sein? Ich stellte alles in Frage, sämtliche Diagnosen, selbst in der Berliner Charité gab es keine andere Diagnose als "frontotemporale Demenz".
Er ging einfach aus meinem Leben
Ich besorgte mir Literatur, wollte den Verlauf dieser Krankheit begreifen, während mein Mann im Laufe der Zeit immer mehr abbaute. Anfangs mit einer Tagespflege noch aufzufangen, gelang es mir immer weniger, während meiner 8 Stunden Berufstätigkeit die Pflege selbst noch zu übernehmen. Ich war am Ende meiner Kräfte und nur noch traurig, was mein Mann natürlich auch merkte. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, er ging einfach aus meinen Leben, obwohl er da war.
Na ja, ich habe ihn sieben Jahre zu Hause mehr oder weniger gepflegt, bis es wirklich nicht mehr ging und ich vor der Entscheidung stand, entweder ich höre auf zu arbeiten oder ich muss für ihn eine Pflegeeinrichtung suchen. Den Job hinzuschmeißen wäre nicht gegangen, da ich zu der Zeit 55 Jahre alt war, also blieb nur die andere Alternative.
Seine Gefühle für mich drückt er immer noch aus
Nach langer Suche und einem Umzug wohnt er nun seit zwei Jahren in einer Demenz-WG, wo er jüngster Bewohner mit 69 Jahren ist. Für mich ist es nach wie vor manchmal kaum zu ertragen, ihn in seiner Krankheit so zu erleben, es zerreißt mir das Herz, aber er freut sich wie ein Kleinkind, wenn ich ihn besuche oder ihn am Wochenende für einen Nachmittag nach Hause hole. Ich bin mir auch sicher, dass er weiß, dass ich sehr leide. Er kann heute nicht mehr sprechen, aber durch Gesten und auch kurze Worte wie "meine Liebste" oder "Du siehst so schön aus" drückt auch er noch seine Gefühle für mich aus.
Die Krankheit hat mir meinen besten Freund, meinen Geliebten und meinen Ehemann genommen, doch meine Liebe zu ihm bleibt, sie hat nur eine andere Form übernommen.
Wir hatten leider nur 10 schöne Jahre, aber die kann mir niemand mehr nehmen, ich kann mich daran erinnern, mein Mann leider nicht mehr.